Elterliche Rechte und Pflichten – Wechselnde Obhut für jedermann​/​frau?

Am 20. Mai 2022 titelte die NZZ „Mütter sollen nicht mehr Vorrang haben“, und berichten über einen aktuellen Vorstoss des Mitte Politikers Sidney Kamerzin. Er, der Walliser Rechtsanwalt und Nationalrat, soll der neue Erlöser der „unglücklichen Scheidungsväter“ werden. Sein Ziel ist es, dass alle Väter das Kind bzw. die Kinder auch nach der Scheidung betreuen dürfen – egal, wie es die Eltern vor der Scheidung gehandhabt haben. Seit 2017 sieht das Gesetz bereits eine Möglichkeit zur wechselnden Obhut vor und prüft dies, sofern sich Mutter und Vater die elterliche Sorge teilen. Kamerzin berichtet jedoch, dass Gerichte häufig nicht bereit seien, Väter nach der Trennung als gleichberechtigten Elternteil anzuerkennen: „In neun von zehn Fällen wird die Obhut auch heute noch einem Elternteil allein anvertraut, das ist in aller Regel die Mutter“. Das heisst für den Vater ein Besuchsrecht, welches ihm erlaubt das Kind bzw. die Kinder regelmässig zu sehen. 

Eine Realität, die man anerkennen muss: heute ist es nicht immer nur die Mutter die sich alleine um die Kinder kümmert. Die Lebensrealität hat sich geändert. Es ist keine Seltenheit mehr, dass Väter sich um die Kinder bemühen und auch durchaus bereit sind, in Sachen Karriere Abstriche zu machen und beispielsweise das Arbeitspensum zu reduzieren. Dennoch kommt es bei Spannungen zwischen den Eltern wohl häufig vor, dass Richter und Richterinnen die wechselnde Obhut ablehnen, berichtet Kamerzin. Deshalb möchte er im Zivilgesetzbuch festgeschrieben haben, dass die wechselnde Obhut nicht am Widerstand eines Elternteils scheitern darf. Für ihn ein richtiger und wichtiger Schritt in Richtung Gleichstellung innerhalb der Familie. Des Weiteren sieht er für Frauen die Gelegenheit, sich beruflich weiterzuentwickeln oder mehr Zeit für sich zu haben.

Die Begeisterung im Kreise von Müttern und vielen Vätern hält sich jedoch in Grenzen, vermutet unsere Präsidentin und Geschäftsführerin Yvonne Feri, da die Möglichkeit zur alternierenden Obhut, wie es juristisch korrekt heisst, faktisch schon besteht. Im Scheidungsverfahren prüft das Gericht bereits, ob die Betreuung geteilt werden soll. Feri bestärkt den Punkt, dass im Einzelfall dem Kindswohl und den bisherigen Familienstrukturen genügend Rechnung getragen werden könne: „Wir sind überzeugt, dass das Familienmodell, welches die Eltern vor der Trennung praktiziert haben, in ähnlicher Weise weitergeführt werden soll. Dies ist im Interesse des Kindes“. Demnach würde eine wechselnde Obhut nur für Familien infrage kommen, die sich bereits vor der Trennung die elterlichen Pflichten geteilt haben.

Eine stärker im Gesetz verankerte alternierende Obhut kommt für den SVAMV nur in Frage, wenn auch entsprechende Strukturen geschaffen werden. Für diesen Fall wäre es vor allem wichtig, bezahlbare Kita-Plätze und mehr Teilzeitstellen für Väter zu schaffen. 

Gesamthaft stellt sich die Frage, sollen Gerichte grundsätzlich über die Betreuungsfrage entscheiden? Papier ist geduldig und die Lebensrealität der Mensch häufig komplexer und vielschichtiger als die Gesetzesvorlagen vorsehen. Letztendlich wird es weiterhin auf die jeweiligen Umstände ankommen. Ein Beispiel: Es gibt eine alternierende Obhut für ein Kind, ein Elternteil müsste aus beruflichen Gründen nach der Trennung ans andere Ende des Landes. Wie kann hier eine sinnvolle Lösung gefunden werden? Mit dem „Zügelartikel“ ist es bereits so, dass beide Eltern mitreden dürfen, in der Realität eine grosse Herausforderung. 

Des Weiteren stellt sich die Frage, wenn man von „Rechten“ spricht, sollte man des Aspekt der Pflicht nicht ausklammern. Sollte die geteilte Betreuung nur ein Recht oder nicht vielmehr auch eine Pflicht für Väter (oder Mütter) sein? Was wäre in diesem Fall mit Vätern, die sich der Verantwortung entziehen oder beispielsweise aus beruflichen Gründen dieser Aufgabe gar nicht nachkommen können? Wird auch bei Müttern in diesem Fall in Betracht gezogen, dass sie eventuell kein Interesse an der Betreuung des Kindes haben könnte oder vielleicht auch aus beruflichen Gründen auf diese Aufgabe verzichten könnte? 

Was sind Ihre Erfahrungen? Teilen Sie gerne Ihre Geschichte rund um das Thema alternierende Obhut mit uns. Selbstverständlich anonymisiert, wenn gewünscht. Mail an: y.feri@svamv.ch

Grundlage für diesen Blogartikel ist folgender Vorstoss: https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20210449

Den NZZ Artikel vom 20.05.2022 finden Sie hier.

Antworten