Neuer Bundesgerichtsentscheid


Neuer Bundesgerichtsentscheid:
Zur Ausgangslage eine Geschichte: „Ich bin dieses Jahr 33 geworden, doch noch erschreckender als mein fortschreitendes Alter ist das Wissen darum, dass in der Schweiz bis 1988 Gesetzesvorschriften galten, die vorsahen, dass der Mann die Familie zu versorgen und die Frau den Haushalt und die Kinderbetreuung zu schmeissen hatte. Gedanklich befinde ich mich bei dieser Familienkonstellation im Mittelalter. Die Lebensrealität vieler (Eineltern-) Familien sieht jedoch anders aus und es zeigt sich wieder einmal, dass der Wandel Zeit braucht und das langsamer als sich die Lebensumstände der Menschen verändern.“
Passend zum Übergang in ein neues Jahrhundert wurde das neue Scheidungsrecht mit dem Vorrang der Eigenversorgung eingeführt: Nur wem nicht zuzumuten ist, für den eigenen Unterhalt (einschliesslich einer angemessenen Altersvorsorge) selbst aufzukommen, hat nach der Scheidung Anspruch auf einen Unterhaltsbeitrag des früheren Partners, der früheren Partnerin. Die elterliche Unterhaltspflicht für gemeinsame Kinder besteht unabhängig von der Regelung des nachehelichen Unterhalts. Seit der Revision des Unterhaltsrechts von 2017 hat das Kind zusätzlich zum Anspruch auf Bar- und Betreuungsunterhalt. Zu den Kriterien, die bestimmen, ob ein Beitrag geleistet werden muss, zählt das Gesetz etwa die Dauer der Ehe und die Aufgabenteilung während der Ehe, Umfang und Dauer der noch zu leistenden Kinderbetreuung, Alter, Gesundheit, Einkommen und Vermögen der Ex-Partner*innen, ihre berufliche Ausbildung und Erwerbsaussichten und den mutmasslichen Aufwand für die berufliche Eingliederung der anspruchsberechtigten Person. Kürzlich hat das Bundesgericht die Rechtsprechung zu diesen Gesetzesbestimmungen präzisiert:
- Künftig müssen alle Arten des Unterhalts – Bar- und Betreuungsunterhalts des Kindes, ehelicher Unterhalt und Scheidungsunterhalt – nach der gleichen Methode (der zweistufigen Methode der Überschussverteilung) berechnet werden. Damit wird die Rechtsunsicherheit behoben, zu der die bisherigen unterschiedlichen kantonalen Berechnungsmethoden geführt hatte.
Bei der zweistufigen Überschussverteilung wird das Gesamteinkommen der Familienmitglieder ermittelt und anschliessend der Bedarf jeder Person festgelegt. Die Mittel, die die (familienrechtlichen) Existenzminima überschreiten, werden nach der konkreten Situation ermessensweise verteilt. - Genügen die Mittel nicht, kommt an erster Stelle der Barunterhalt für minderjährige Kinder, anschliessend der Betreuungsunterhalt, dann ein allfälliger ehelicher oder nachehelicher Unterhaltsanspruch und zuletzt der Unterhalt für volljährige Kinder.
- Nach wie vor gilt der Grundsatz, dass Geld- und Naturalunterhalt gleichwertig sind; die Elternperson, die ihren Beitrag durch die Betreuung des Kindes leistet, muss nicht auch noch für dessen Kosten aufkommen. Davon kann allerdings ermessensweise abgewichen werden, wenn die betreuende Elternperson finanziell deutlich bessergestellt ist.
- Beim nachehelichen Unterhalt muss neu stets von der Zumutbarkeit einer Erwerbsarbeit ausgegangen werden, soweit eine solche tatsächlich möglich ist und keine Hinderungsgründe bestehen, namentlich die Betreuung kleiner (vorschulpflichtiger) Kinder. Massgeblich ist nicht mehr das Erreichen des 45. Altersjahrs zum Zeitpunkt der Scheidung oder der Aufhebung des gemeinsamen Haushalts, sondern die tatsächlichen Verhältnisse im Einzelfall. Entscheidungskriterien sind unter anderem Alter, Gesundheit, bisherige Tätigkeiten, persönliche Flexibilität oder die Lage auf dem Arbeitsmarkt.
- Neu muss auch individuell geprüft werden, ob die konkrete Ehe das Leben der Partner*innen entscheidend geprägt hat. Die bisherigen Kriterien für die lebensprägende Ehe, die Anspruch darauf gibt, den bisherigen ehelichen Lebensstandard beizubehalten (Ehedauer von zehn Jahren oder – unabhängig davon – ein gemeinsames Kind) gelten nicht mehr.
Nach der neuen Definition ist eine Ehe lebensprägend, wenn ein*e Partner*in die ökonomische Selbstständigkeit zugunsten der Haushaltbesorgung und Kinderbetreuung aufgegeben hat und es ihr*ihm nach langjähriger Ehe nicht mehr möglich ist, an der früheren beruflichen Stellung anzuknüpfen, während der*die andere Partner*in sich angesichts der ehelichen Aufgabenteilung auf das berufliche Fortkommen konzentrieren konnte. Ist dies der Fall, ist die Dauer der Scheidungsrente vor dem Hintergrund der konkreten Umstände des Einzelfalls angemessen zu befristen; einen pauschalen Anspruch auf Unterhalt bis zur Pensionierung gibt es nicht mehr.
Die kürzlich erfolgten Präzisierungen bedeuten einen enormen Schritt in Richtung Gleichstellung! Vor allem der Schritt zur individuellen Betrachtung und Bewertung von Einzelfällen stellen einen enormen Gewinn für alle Beteiligten dar. Das neu für alle gültige Zweistufen-Modell zur Ermittlung des Unterhalts hebt die Rechtsunsicherheit der verschiedenen kantonalen Berechnungsmethoden auf. Die juristischen Anpassungen werden in Zukunft jedoch erst in der Umsetzung zeigen müssen, wie gut sie umsetzbar sind und was dies für die Lebensrealität der Betroffenen bedeutet.
Nur langsam bewegen wir uns aus den (juristisch) veralteten Rollen- und Lebensbildern heraus und man orientiert sich mehr an der Lebensrealität der Menschen. Dennoch sind wir immer noch weit von einem zeitgemässen Scheidungsrecht entfernt. Weitere Präzisierungen werden in Zukunft folgen und Anpassungen gemacht werden müssen.
Was sind ihre Erfahrungen? Hätte Ihnen diese Rechtssprechung in ihrem Fall geholfen? Lassen Sie es uns wissen.
Hinweis: Dieser Blogartikel dient als Zusammenfassung, um über die grundlegenden Anpassungen im Scheidungsrecht zu informieren. Für konkrete Anliegen und Unterstützung wenden Sie sich bitte direkt info@svamv.ch oder über das Kontaktformular
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