***Gastartikel von Laura Schäfer

Sand, soweit das Auge reicht. So zumindest nahm vermutlich der kleine Marienkäfer die Welt wahr, als er sich in der rund ein Meter Durchmesser grossen Sandmuschel meines Sohnes verirrt hatte. Schnell brachte ich ihn in Sicherheit, bevor mein Sohn ihn entdecken würde und der kleine Käfer um sein Leben kämpfen müsste. Ohne ein Bewusstsein dafür zu haben, ist mein Sohn mit seinen knapp 1,5 Jahren nämlich eine Riesengefahr für diesen kleinen Käfer. Ich sollte wohl besser ein Schild vor der Sandmuschel platzieren mit der Aufschrift «Achtung Lebensgefahr»!

Nachdem der Käfer in Sicherheit war und mir der feinkörnige und weisse Sand durch meine Fingerspitzen glitt, während mein Sohn in Ruhe vor sich hin spielte, dachte ich an unseren letzten Urlaub zurück. Dank unserer kinderlosen Freunde, welche immer grosse Freude dabei hatten, meinen Sohn zu bespassen, konnte ich mich in diesem Urlaub ab und an vom damaligen alleinerziehenden Alltag mit einem Säugling erholen. Und so war das Wort «Urlaub» tatsächlich die richtige Bezeichnung für diese Tage am Meer. Doch es fing leider alles andere als entspannt an:

Total erkältet, aber voller Vorfreude auf den Urlaub bin ich bereits am Mittag zum Flughafen gefahren, um das Gepäck aufzugeben, sodass ich am Folgetag bei Sonnenaufgang entspannt mit meinem Sohn in der Trage (er war zu diesem Zeitpunkt rund 7 Monate alt) den Flieger nehmen konnte. Soweit so gut von mir organisiert. Nur sollte es dann leider anders kommen.

Ich hatte mein Auto ins Parkhaus am Zürcher Flughafen perfekt positioniert, so dass ich in wenigen Schritten mit unseren zwei Koffern den Check-in Schalter erreichen konnte. Am Schalter angekommen, war für mich das Check-in gedanklich bereits abgeschlossen. In meinem Kopf war ich schon wieder zu Hause beim Handgepäck packen.

Doch plötzlich wurde ich von den Worten des gelangweilten Angestellten ins Hier und Jetzt zurückbefördert: Ihr Ausweisdokument ist nicht mehr sechs Monate nach Ausreisetermin gültig“. Mit diesem Satz hatte er meine volle Aufmerksamkeit! Doch es half alles nichts – knapp daneben ist halt auch vorbei. 

In den darauffolgenden Stunden habe ich dann hartnäckig versucht Lösungen zu finden: Aber wo sollte ich jetzt einen Notfall Reisepass auf die Schnelle herbekommen? Wäre ich Schweizerin kein Problem, aber ich bin Deutsche und da wird es dann so richtig kompliziert. Und selbst wenn es mir gelinge einen Notfall-Reisepass aufzutreiben dann bliebe es fraglich, ob dieser bei der Einreise am Reiseziel «Ägypten» auch akzeptiert wird. So noch der motivierende Hinweis des Check-In Mitarbeiters.

Die Lösungsfindung wurde von mir gekonnt zweigleisig durchgeführt. Hier konnte ich von meinen kürzlich erworbenen Skills als alleinerziehende Mutter so richtig profitieren – flexibel bleiben und alles gleichzeitig aufgleisen.

In dieser Situation bedeutete dies konkret, persönlich an diversen Stationen am Flughafen vorzusprechen, um einen Ansprechpartner zu finden, welcher sich für mich zuständig fühlte, um den Flug umzubuchen. Dabei sollte man meinen, dass dies eine leichte Angelegenheit sein würde. Dem war aber nicht so. Und zum anderen, am Telefon mit dem Bundesgrenzschutz, diversen Gemeinden in Deutschland, dem Konsulat in Zürich und schlussendlich der Botschaft in Bern, eine Lösung für meine zunächst aussichtslos erscheinende Lage zu finden.

Und ja, bei meinen Sprints am Flughafen, immer an meiner Seite die zwei Koffer. Mit dem Handy am Ohr ist das dann in der Tat herausfordernd. Am Abend dann die Gewissheit: ich musste umbuchen auf den nächsten Flug in zwei Tagen und ein Express Ausweisdokument bei der Botschaft in Bern beantragen. 

Wie sich dann am Abend noch herausstellen sollte, hätte ich ohnehin nicht fliegen können, weil sich mein Gesundheitszustand über den Tag so verschlechtert hatte, dass ich bereits aufgrund meiner Ohrenentzündung nicht hätte fliegen dürfen. So die Aussage der telefonisch konsultierten Notfallärztin. Ob das überhaupt realistisch ist, dass in nur 2 Tagen der Gesundheitszustand meiner Ohren sich wesentlich verbessern würden? Das stand in den Sternen.

Zum Glück hatte ich mittlerweile nervliche und kompetente Unterstützung von Freunden. Sonst hätte ich vermutlich hingeschmissen und das Scheitern einfach akzeptiert. Denn auch das Akzeptieren von Dingen, welche sich nun nicht mehr ändern lassen war in den letzten Monaten als Alleinerziehende zu meiner Paradedisziplin geworden. Die Erkenntnis war, dass es immer irgendwie weiter geht und sowieso keine Zeit bleibt, um lang traurig sein, denn mein Sohn hat den ganzen Tag und sogar in der Nacht viele Wünsche, welche ich als seine persönliche «Sklavin» jeden Tag erfüllen darf.

Am nächsten Morgen um 5 Uhr war ich bereits Richtung Bern unterwegs, während ich die halbe Nacht damit verbracht hatte, die zahlreichen Dokumente, welche ich für die Beantragung des Notfall-Reisepasses benötigen würde, zu suchen. Zumindest immer, wenn ich nicht grad meinen Sohn wieder in den Schlaf wiegen musste. Aber wer weiss denn auch wo um Himmel willen die Abmeldebescheinigung des ersten deutschen Wohnortes vor ca. 15 Jahren, abgelegt war und wiese brauche ich diese überhaupt zur Beantragung eines Notfall-Reisepasses? Womit wieder die Sache mit der Akzeptanz ins Spiel kam: nicht hinterfragen, einfach suchen (so feuerte ich mich selbst an).

Ihr möchtet Wissen was ich an diesem frühen Morgen mit meinem Sohn machte? Ja den jonglierte ich gekonnt von einer Freundin zur Anderen. Was in mir ein Gefühl auslöste, die schlechteste Mutter auf der ganzen Welt zu sein. Vor allem, weil ich nun Zeit zum Grübeln hatte. Schliesslich hatte ich eine lange  Autofahrt vor mir, da ich ja von Zürich zur Botschaft in Bern fahren musste.

Ob es das alles Wert war, fragte ich mich derweil? Ja das hätte ich so gern in diesem Moment mit meinem Partner gemeinsam abgewogen. Auch wenn ich das Alleinerziehend sein von Anfang an gut verkraftet habe, aber in solch schwierigen Momenten schimpfte ich dann immer ganz besonders auf den Vater meines Sohnes. In dem Moment konnte der arme Kerl gar nichts für die Situation, aber diese Situationen sind es, welche in mir den innerlichen Frust an die Oberfläche transportieren lassen. Ein wenig wie ein Vulkanausbruch. Sobald der vorbei ist, wächst nach der ersten völligen Zerstörung wieder ein fruchtiger Boden heran. Es dauert nur seine Zeit und man weiss nie, wann dieser erneut ausbrechen wird.

Ob es überhaupt ein „Happyend“ geben sollte? Für den Vater und mich gab es das nicht. Es spielte genau eine Situation an diesem Flughafen eine Schlüsselrolle für das Scheitern unserer Beziehung, quasi der Showdown des an sich filmreifen Abenteuers. Tatsächlich war es auch der Moment, an dem ich ihn das letzte Mal sah. Schon ein Freund der Familie hatte mir mal gesagt, dass er die Szenen, welche sich an Flughäfen dieser Welt abspielen, sehr spannend empfand. Hier schliessen sich Menschen in die Arme, aber sie verabschieden sich auch emotional voneinander.

Kennt ihr das auch? Orte an denen ihr gefühlt keine Luft mehr bekommt, weil ihr diese mit dem Ex-Partner in Verbindung bringt? Tja der Flughafen ist so ein Ort für mich. Und der langjährige Freund der Familie hatte recht behalten. Auf Flughäfen lassen sich sämtliche intensive Emotionen wie Liebe, Trauer, aber auch Freude, beobachten. Meine Emotion war grad geprägt von Zielstrebigkeit und Willenskraft. Ich wollte diesen Urlaub – ich brauchte diesen Urlaub! Aber  zu diesem Zeitpunkt war völlig unklar, ob ich meinen Notfall-Reisepass noch organisieren könnte in der mir zur Verfügung stehenden Zeit. Vielleicht gäbe es ja wenigstens diesbezüglich ein „Happyend“.

Zwischendrin drängte sich immer wieder noch ein weiteres Gefühl auf: Ärger. Ärger über mich selbst. Wie konnte ich so einen Anfängerfehler machen? Ich, die schon die halbe Welt bereist hat? Aber ja, es hätte jedem passieren können, besänftigte der Engel auf meiner linken Schulter in Richtung Teufel zu meiner Rechten. Jedem, der so unter massiven und dauerhaften Druck als Alleinerziehende mit einem Säugling stand. Ohne Familie in der Nähe und ohne auch nur einen Rappen Alimente.

Angekommen in Bern hatte ich dann noch einen kleinen Marathon zu leisten. Aktuelle Fotos für den Reisepass machen, zur Bank um Bargeld zu holen, da die Botschaft (typisch) nur Bargeld annahm. In der Botschaft fühlte ich mich dann tatsächlich wie in Deutschland. All diese streng schauenden Beamten. Die Beamtin, welche für meine Angelegenheit zugeteilt war, erklärte mir dann, dass es nur ein vorläufiger Pass sei. Für die Beantragung eines neuen bräuchte ich einen separaten Termin.

Ich ziehe wirklich selten die Mitleidskarte der Alleinerziehenden. Aber nochmals an einem anderen Tag zur Beantragung wiederzukommen wollte ich um jeden Preis vermeiden. Sie blieb vehement bei ihrem Nein. Da halfen auch meine Lebensumstände nichts. Dabei wünschte ich mir, ab und zu eine kleine Sonderlocke zu erhalten. Einfach als Unterstützung der Alleinerziehenden in unserer Gesellschaft.

Zum Glück konnte ich diesen Hochsicherheitstrakt schnell wieder verlassen und musste dann aber noch auf den Notfallpass warten. Während ich mit meiner verschnieften Nase vor der Botschaft auf meinen zumindest erfolgreich beantragten Notfall-Ausweis wartete, versuchte ich positiv zu bleiben. Doch diese erneute Ruhe nahm der Teufel gleich wieder zum Anlass mich zu nerven.

Vielleicht sei das alles ja ein Zeichen? Schliesslich ist der Reiseort – ein Ort, an dem ich einige male gemeinsam mit dem Ex-Partner gewesen bin. Tatsächlich hatte ich diesen Ort lang gemieden, aber nun wurde es Zeit, die Freunde dort wieder zu treffen und dieser Oase wieder einen Besuch abzustatten. Der Teufel hatte auch hier schlechte Karten: ich wollte diesen Urlaub – ich wollte das Motto des Hotels «nach Hause kommen» wieder mal erleben. Also musste ich die Stille in meinem Kopf anderweitig füllen.

Mein Auto war seit Stunden perfekt auf den streng bewachten Eingang der Botschaft ausgerichtet. So wartend darauf, dass der Ausweis im Eilverfahren endlich gedruckt wurde, stellte ich mir vor, eine Spionin zu sein, und mein Auftrag sei es, das „kommen und gehen“ der Botschaft auszukundschaften… Mittlerweile hatte ich dann allerdings eher das Gefühl, dass die Botschaft mich beobachten würde, denn die Kameras waren schon irgendwie auf mich ausgerichtet. Bildete ich mir zumindest ein.

Vermutlich fragten sie sich, ob diese Frau im Auto eine Gefahr für die Bundesrepublik Deutschland darstellte? Ich stoppte mich dann selbst und verliess den James Bond- artigen Tagtraum. Die EU-Flagge neben dem Haus gab mir dann auch genug Möglichkeit zum Nachdenken bis es endlich soweit war. Finally, ging dann alles nochmal gut. Ich hatte den Ausweis bekommen und konnte am Folgetag nach Ägypten fliegen. Schon bei der Begrüssung im Hotel mit «Willkommen zu Hause Laura», wusste ich, dass es die richtige Entscheidung war. In den Armen der Freunde konnte ich mich dann auch endlich mal etwas fallen lassen und es hatte sich gelohnt. Auch wenn es nur noch rund 10 Tage Sonne, Sand und Meer bedeutete, aufgrund der bereits verlängerten Anreisedauer.

Mit einem Lächeln kam ich dann auch aus diesem aktuellen Tagtraum zurück in die Realität und stellte mal wieder fest, dass es nie ein gutes Zeichen ist, wenn das Kind keinen Mucks von sich gibt. Man geniesst es zwar, weiss aber ganz genau, dass das Kind etwas anstellt. Und so war es auch. Der Sand war überall – natürlich ausserhalb der Sandmuschel verteilt. Und was nicht ausserhalb war, war innerhalb der Kleidung meines Sohnes gelandet. Das hiess:  ab in die Badewanne. Wo ich dann gleich wieder ans rauschende Meer denken konnte. Und dank meines Sohnes auch den Wellengang quer durch das Badezimmer spüren konnte.

Dieses Jahr sind nun finanziell gesehen keine Ferien drin – mal ganz abgesehen von der Corona-Situation. Schön aber, dass man sich ab und an eine kleine gedankliche Auszeit nehmen kann und sich an einem Ort seiner Wahl aus den bereits erlebten Ferien begeben kann. Und das Beste ist daran: das gedankliche Reisen kostet uns nichts, braucht keine Einhaltung von Abstandsregeln und bedarf zum Glück auch keinen gültigen Reisepass.

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SVAMV
Schweizerischer Verband
alleinerziehender Mütter und Väter
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