Plötzlich alleine

Mein Mann stand jeweils früher auf, brachte meiner Tochter und mir frisch gepressten Organgensaft ans Bett. Während ich meine Yoga-Übungen machte, bereitete er das Frühstück vor. Dann war ich den ganzen Tag ausser Haus und setzte mich abends wieder an den Familientisch. Das Essen stand immer schon bereit. Ich konnte mich ganz unserer Tochter widmen und wenn sie eingeschlafen war, den Sturm da draussen in der Arbeitswelt im Gespräch mit meinem Mann setzen lassen, seine Unterstützung spüren und zur Ruhe kommen. Früher fragte ich mich manchmal, was mein Mann nebst Gitarreunterricht geben und Komponieren eigentlich den ganzen Tag zuhause tut. Seit er nicht mehr da ist, weiss ich es. 

Nie hätte ich gedacht, dass Haus- und Betreuungsarbeit so viel zu tun gibt. Ständig bereit sein zum Kochen, Aufräumen, Putzen, Spiel- und Arzttermine organisieren, die Schulagenda auf dem Radar haben, Katze füttern, Flaschen entsorgen, Rasen mähen. Seit er nicht mehr da ist, merke ich auch, wieviel Energie ich bei ihm tanken konnte, wie sehr er unser Daheim zu unserem Zuhause gemacht hat. 

Eineltern sind zwei in eins

Alleine mit meiner 10-jährigen Tochter zu leben, heisst auch, die herausfordernden Situationen mit ihr alleine zu meistern. Früher hatten wir dieses Zusammenspiel bei Wutanfällen, Hausaufgaben, beim Bereitmachen zum Schlafen und bei Spontanaktionen: Wer gerade mehr Energie hatte, übernahm. Jeder war jeweils der «Backup» für den anderen. Jetzt gibt es keinen «Backup» mehr. 

Es ist eine grosse Herausforderung, diese diversen Rollen alleine auszufüllen und jede Aufgabe selber zu übernehmen. Wir alle wollen das Beste dafür tun, dass sich unsere Kinder geliebt und geborgen fühlen, dass sie sich entfalten können. Ich bin überzeugt, dass unser Wohlbefinden direkten Einfluss auf das Befinden unserer Kinder hat. Darum ist es so wichtig, auf uns Acht zu geben. 

Akku aufladen

Jede Superheldin und jeder Superheld muss ab und zu auftanken. Mir bewusst zu werden, welches meine Energiequellen sind und den Raum dafür zu schaffen, ist Voraussetzung für ein gutes Energiemanagement. Doch was tue ich, wenn mich zum Beispiel Tanzen entspannt, meine Tochter abends aber nicht ohne mich sein möchte oder kann? Wenn mir soziale Kontakte guttun, sie aber traurig ist, wenn ich aus dem Haus gehe? Meine Tochter beklagt sich öfters, der Akku ihres Handys sei immer so rasch leer. Mit diesem Bild arbeite ich darum mit ihr. Sie versteht zunehmend besser, dass Mama ab und zu die Batterie aufladen und darauf achten muss, dass diese nicht ganz leer wird. Und sie spürt die positive Veränderung: Ich bin weniger gereizt, kann mich mehr auf sie einlassen, bin fröhlicher und ausgeglichener. 

Pizza reicht auch

Ich versuche, den Fünfer überall ein wenig grade sein lassen. Wenn’s zum Einkaufen nicht reicht, bestelle ich Pizza. Wenn’s zum Putzen nicht reicht, dann ist es eben weniger sauber. Wenn der Rasen zu hochsteht, freuen sich die Insekten. Wenn die Energie zum Spielen oder Malen nicht reicht, schauen wir eben einen Film. Ich mute meiner Tochter auch mehr zu als früher. Sie ist jetzt fürs Wäschemachen zuständig und hat weitere kleine Ämtli. Nein, ich muss nicht alles selber machen. Mehr Wohngemeinschaft, weniger Hotel. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mir eingestehen konnte, dass es anders gar nicht geht. Und bis ich wahrnahm, dass meine Tochter unabhängiger, selbständiger und meinen Bedürfnissen gegenüber sensibler geworden ist. «Wir schaffen das, Mama», sagt sie, wenn ich mit meinem Akku wieder am Ringen bin. 

Erst seit ich plötzlich selber alleine bin, verstehe ich, was die Frauen und Männer in Einelternfamilien alles leisten. Ich hatte ja keine Ahnung. Hut ab! Wir schaffen das!

Andrea Huber lebt seit dem Tod ihres Mannes im Oktober 2021 zusammen mit ihrer 10-jähren Tochter als Einelternfamilie. Sie arbeitet als Politik- und Strategieberaterin und stand mit ihrem Mann Carlos Ramirez viele Jahre lang unter dem Künstlernamen «Andra Borlo» als Sängerin auf der Bühne. Sie ist Mitglied vom Verein «Aurora», Partnerorganisation von eineltern.ch.

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