Kindsentfremdung

Kindesentfremdung

Stellungnahme des SVAMV zur Aktion «Es sind genug Tränen geflossen!» vom 20. November 2022 von gecobi (Gemeinsame Elternschaft)

Es ist richtig, dass es grosses Leid bedeutet, wenn der Kontakt zwischen Eltern und Kind abbricht. Alle Betroffenen, und besonders jedes betroffene Kind, brauchen dringend die richtige Hilfe. Und jedem Fall muss wenn irgend möglich vorgebeugt werden.

Die Ansicht, das Kind werde dem Vater oder der Mutter entfremdet, wird der vielschichtigen Problematik jedoch in keiner Weise gerecht. Sie kann sogar Lösungen und Massnahmen behindern, die im Einzelfall die Situation der Betroffenen konkret verbessern.  

Wir sind überzeugt, dass eine öffentliche Kampagne zur Verbreitung des Konzepts der sogenannten Kindesentfremdung nicht ein guter Weg ist, um den betroffenen Personen zu helfen, denn

  • diese Sichtweise wirft die unterschiedlichsten Situationen und Gründe, die ein Kind haben kann, den Kontakt mit einer Elternperson zu verweigern, in einen Topf,
  • sie arbeitet mit Schuldzuweisungen an die hauptbetreuenden Eltern, was Kinder belastet,
  • sie steht im Widerspruch zum im Übereinkommen über die Rechte des Kindes verbrieften Recht des Kindes, dass seine Meinung gehört und ernst genommen wird, und kann sein Recht auf Schutz vor Gewalt jeder Art gefährden, wenn das Kind den Kontakt ablehnt, weil Vater oder Mutter es misshandeln.

Aus unserer Sicht schadet die Aktion von Gecobi betroffenen Kindern, denn sie setzt nicht auf Lösungen, die sich am Einzelfall und den individuellen Bedürfnissen des Kindes orientieren. Auch übertreibt Gecobi in der Darstellung des Ausmasses des Problems stark, denn es gibt keine evidenzbasierten Zahlen – doch jeder Fall ist einer zu viel, darin sind wir uns einig. Eine positive Beziehung des Kindes zu seiner Mutter oder seinem Vater verhindern ist eine Art von psychischer Gewalt – dazu gehören weitere Phänomene, welche häufig(er) vorkommen wie Liebesentzug, Vernachlässigung oder Drohungen, aber auch die Vernachlässigung des Kontakts zum Kind, der von einer Elternperson ausgeht. Gewalt jeglicher Form verurteilen wir und muss verhindert werden.

Wir sind überzeugt davon, dass es mehr Sensibilisierung braucht, damit Kontaktabbrüche so weit als möglich ausgeschlossen und positive Eltern-Kind-Beziehungen gefördert werden können. Neben der Sensibilisierung von Behörden und Eltern braucht es auch Weiterbildungsangebote für Behörden wie der KESB und für Sozialarbeitende, und Aufklärungsarbeit. Die Trennungsphase von Eltern ist eine anspruchsvolle Zeit für alle Betroffenen. In dieser Zeit sollte besonders das Kindswohl noch mehr als sonst in den Mittelpunkt gestellt werden, die Paarprobleme müssen getrennt von den Kinderbelangen geregelt werden. Hilfreich ist auch, wenn Mütter und Väter bereits in der Zweielternfamilie eigenständige gute Beziehungen zu ihren Kindern pflegen. Dafür sollen und können Beratungsangebote und Mediator:innen gute Dienste leisten.

Wir vom SVAMV setzen auf Aufklärung und Beratung, damit in jedem Fall die beste Lösung für das Kind gefunden werden kann.


Gerne verweisen wir auf unser Informationsblatt „Kindeswohl in ausserordentlichen Zeiten“ sowie nachfolgende Informationen (nur auf Deutsch)


Simoni Heidi (2005).
Beziehung und Entfremdung. FamPra 4/2005

Was tun, wenn das Kind den Kontakt zu einer Elternperson ablehnt? 

Jedes Kind hat seine eigenen Gründe, wenn es sich von einer Elternperson distanziert. Diese müssen verstanden und respektiert werden, um Lösungen finden zu können, die den individuellen Bedürfnissen des betroffenen Kindes entsprechen und ihm die richtige Unterstützung bieten: Das Kind hat Anspruch darauf – wenn irgend möglich – sowohl eine positive Beziehung zu seinen beiden Eltern zu unterhalten, als auch, vor jeder Gefährdung seines Wohls geschützt zu werden.   

  • Klären Sie als erstes ab – eventuell mit Hilfe einer Fachperson – aus welchen Gründen Ihr Kind den Kontakt zur andern Elternperson oder zu Ihnen verweigert, und ob es Belastungen gibt, die für das Kind mit den Kontakten verbunden sind.  
  • Entscheidend ist, dass Sie sich dabei auf die Äusserungen des Kindes konzentrieren, und nicht etwa auf die Frage, ob sein Wille beeinflusst worden sein könnte und von wem. 
  • Es gibt unterschiedliche Gründe, aus denen Kinder den Kontakt zu einer Elternperson verweigern. Das Kind kann sich zum Beispiel distanzieren, weil die Regelung der Kontakte seinem Alter und Entwicklungsstand nicht (mehr) entsprechen, etwa wenn sie mit seinen Beziehungen zu Gleichaltrigen kollidieren oder weil das Kind, unabhängig vom Familienmodell, weniger an Aktivitäten mit seinen Eltern teilnehmen möchte;  
  • das Verhalten einer Elternperson oder beider bei der Trennung das Kind überfordern und es elterlichen Auseinandersetzungen aus dem Weg gehen möchte; 
  • die abgelehnte Elternperson ihrer Aufgabe im Umgang mit dem Kind nicht gewachsen ist und ein ungünstiges Erziehungsverhalten zeigt, unter dem das Kind leidet; 
  • das Kind sich vor einer realen Gefahr schützen muss, beispielsweise wenn die Elternperson es körperlich oder psychisch misshandelt oder vernachlässigt. 
  • In sehr seltenen Fällen reagiert das Kind auf einen belastenden Trennungsprozess, indem es ein Feindbild einer Elternperson entwickelt und diese ohne nachvollziehbare Gründe ablehnt. 
  • Die Gründe des Kindes für den Kontaktabbruch zeigen auf, welche Massnahmen ergriffen werden können, um dem Kind wenn möglich (wieder) zu einer guten, unterstützenden Beziehung zu jeder Elternperson zu verhelfen, und es wenn nötig wirksam vor Gewalt und anderen Risiken zu schützen. Als Mutter bzw. Vater können Sie zum Beispiel zusammen mit der andern Elternperson die Regelung des persönlichen Verkehrs oder der Obhut und Betreuung anpassen und dabei das Kind mit seinen Anliegen einbeziehen; 
  • die andere Elternperson beim Umgang mit dem Kind unterstützen, etwa mit Informationen oder Hinweisen, damit sie ihre Erziehungskompetenzen verbessern kann; 
  • auf Ihr eigenes Verhalten achten und versuchen, Verhaltensweisen aufzugeben, die Ihr Kind belasten, beispielsweise die andere Elternperson nicht vor den Kindern schlecht zu machen.  
  • Je nach Situation kann es angezeigt sein, dass Sie eine Fachperson oder Behörde beiziehen, insbesondere wenn das Kind geschützt werden muss. 
  • Auch behördliche Massnahmen wie Weisungen zum persönlichen Verkehr können unter Umständen geboten sein. 

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